Georg Salden


Anregungen zur Anfänger-Handschrift an deutschen Grundschulen


Vorwort

Den folgenden Aufsatz habe ich im Herbst 2010 begonnen. Ich habe ihn einige Male umgeschrieben, ohne seinen Zweck oder die Aussage zu verändern, nachdem ich ihn probeweise Laien zum Lesen gegeben hatte. Laien sprechen im allgemeinen gern und ungezwungen über die Art ihres Schreib-Lern-Geschehens. Wenn ich jedoch Pädagogen den Aufsatz vorlegte, stellte ich fest, daß für sie die eigentliche Schreib-Lern-Didaktik keine Rolle spielt. Sie sehen Sprache, Lesen und Schreiben in festem Zusammenhang und glauben, daß der Zweck der Handschrift erfüllt sei, wenn die Gedanken, die jemand äußern will, lesbar geworden sind. Dies ist meiner Meinung nach eine zu einseitige Bewertung.
Sprache gibt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Natur dem Menschen mit. Lesen ist ein komplizierter Vorgang, der die Erinnerung an sehr viel Begriffe und ihre Wortbilder voraussetzt. Schreiben ist, besonders in der Lernphase, eine gestalterische Aktivität, die Lautzeichen in einer Zeile anordnet. Das Aneinanderreihen wird im Gehirn geplant, das in sehr direkter Verbindung mit den drei Schreibfingern arbeitet. Diese Kooperation bewirkt individuelle Einmaligkeit bei jedes Menschen Schrift. Sie ist nicht zu ersetzen durch das Nachmalen von einzelnen Buchstaben noch durch das Antippen von Tasten auf einem Schreibgerät. Die zu erlernende Schrift muß allerdings die Möglichkeit einer logischen Gestaltung vorsehen. Sie soll dem Anfänger mit einer Didaktik angeboten werden, wie er sie etwa von seinem Trainer im Sport erwartet.
Zweifellos wird die erlernte Schreibschrift vom Schreibenden selbst gelesen. Sie muß auch zur Weitergabe von Texten an Dritte geeignet sein, die die Zeichen verstehen. Wenn der Zusammenhang zwischen Schreiben und Lesen vermittelt ist, fällt späteres Lesen auch von Textschriften leicht. Durch die Entwicklung über Schreiben zum Lesen gehen die Kinder allmählicher von ihrem bisherigen Weltbegreifen durch Tätigsein über zum Verstehen der Welt durch Zuhören und Aufmerksamkeit.
Die meisten heutigen Pädagogen kennen keine sorgsam erlernte Handschrift mehr. Sie sind mit Lehrstoff überhäuft. Von ihnen ist keine Verbesserung zu erwarten. Das Schreibenlernen von Anfängern in eine besondere Lebenszeit zu legen, ist daher sehr folgerichtig. Man kann nun nicht stundenlang nur schreiben. Der Unterrichtstag muß also sinnvoll aus Lebensbereichen gefüllt werden, die nicht Lesetextabhängig sind und den jungen Menschen Denkanstöße geben. Die Bemühungen, diese ganze Methodik in den Kindergarten zu verlegen, sind unklug, weil zu früh.*
Die Bedeutung der Handschrift für die europäische Kultur mag illustriert sein durch die Tatsache, daß ein Schreibsklave Ciceros um 60 vor Christus ein Kürzel für die Wort-Endung „ue“ eingeführt hat und dieses Kürzel noch von einem italienischen Schriftgießer nach 1800 im Satz benutzt wurde. Auch unsere heutigen Abkürzungspunkte bei Prof. und tägl. gehen auf diesen Sklaven Tiro zurück.
Die Zahl der Menschen in Deutschland, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, wird mit 20 Millionen beziffert. Man wird das meiner Ansicht nach nicht mit individueller Förderung beheben können.

* siehe auch „Säugling und Kleinkind“ von Prof. Dr. med Gesell, erschienen 1952 im Christian Verlag. Die Übersetzung aus dem Amerikanischen unterscheidet zwischen „Nursery Schools“ (bis 4 Jahren) und „Kindergarten“ (eine der Schule vorgeschaltete aber freiwillige, schulische Einrichtung im 5. Lebensjahr).


Anregungen zur Anfänger-Handschrift an deutschen Grundschulen

Zum Ende jeden Schuljahres, zu Beginn der Sommerferien erscheint in großen deutschen Tageszeitungen ein aufschreckender Artikel, der die Probleme der heutigen Schülerhandschrift debattiert. 2010 verglich Herr Rüschemeyer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das Erlernen einer Anfängerschrift mit den körperlichen Schäden, die Schreibmönche des Mittelalters bei ihrem täglichen Kopieren von Büchern erlitten hätten. 2012 alarmierte die Bildzeitung „Handschrift stirbt aus“ und beklagt das mit ganz richtigen Argumenten: Schreiben mit den Fingern habe engen Kontakt mit der Gehirntätigkeit.
Schon 1965 steht in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung ein Beitrag mit dem Titel „Kinder mögen Druckschrift“. Darin plädiert die Pädagogische Hochschule (Essen-)Kettwig für eine Anfängerschrift, deren Buchstaben unverbunden sind und deshalb leichter zu erlernen, schneller zu schreiben und besser zu lesen seien. Diese Schrift wird merkwürdigerweise bis heute „Druckschrift“ genannt, obwohl sie handgeschrieben wird und viele Pädagogen träumerisch erhoffen, diese werde sich mit der Zeit und der Übung zu einer verbundenen, individuellen Handschrift auswachsen.
Der Kampf um die „richtige“ Anfängerschrift geht also schon Dezennien. Er verschärft sich heute, weil einerseits alle Besserungsversuche fehlschlagen und gleichzeitig Computer einen immer größeren Anteil am Austausch auch von privaten Mitteilungen übernehmen.
Ich bin Diplom-Designer mit Abschluß 1954. Seit 1971 entwerfe ich Schriften für Drucksachen. 1960–65 habe ich Schrift-Abendunterricht an der jetzigen Folkwang Universität für Künste erteilt. In jenen Jahren gab ich auch Kurse für Jugendliche unter dem Titel „Persönliche Handschrift oder Klaue?“

Der Nationalsozialismus hat die Deutschen nicht nur Millionen von Toten gekostet, sondern auch letztlich das Bewußtsein ihrer historischen Kultur und die Kontinuität ihrer Schrift. Seit der Revolution durch das gedruckte Buch (Gutenberg um 1450) wurde in Deutschland 500 Jahre lang Fraktur gedruckt und gelesen. Die tägliche Handschrift jedoch, die Lessing, Goethe, Bismarck schrieben, entwickelte sich nebenher in einer eigenen Formenwelt.
Um das sichtbar zu machen, müssen wir in die Römerzeit zurück. Den meisten sind die eingemeißelten Inschriften auf der Trajanssäule als Urform unserer lateinischen Großbuchstaben bekannt. Dies war die „Denkmalschrift“. Gleichzeitig gab es in Büchern verwendete Schriften. Und schließlich für schnelle private Notizen eine Handschrift, die zumeist in Wachstäfelchen geritzt wurde.

Die schnelle Handschrift beeinflußte in den nächsten 800 Jahren die beiden statischeren Schriften so, daß Karl der Große eine offizielle und Buch-Schrift anordnen konnte, die wir heute als Urform unserer Kleinbuchstaben ansehen. Diese sogenannte karolingische Minuskel veränderte sich in den nächsten 400 Jahren in die enge, eckige, gotische Schrift, die Gutenberg als Vorlage für seine Druckschrift diente. Die zeitgleiche Notizschrift ist fetter als die römische weil sie mit Federkiel auf Papier geschrieben wird, bleibt aber flüssig und rund.

Mit den Nationalsprachen lasen und schrieben mehr Menschen. Schreibmeister lehrten sie, ihre Handschrift zu disziplinieren, damit sie auch anderen lesbar war. Beim schnelleren Schreiben verbanden sie die Buchstaben. Damit sie sich besser verbanden, entwickelten sie in Deutschland Sonderformen von vielen Buchstaben, die wir heute nicht mehr mögen. Geblieben ist aber der Wunsch, die gleiche Schnelligkeit und Deutlichkeit wie mit diesen Sonderformen zu erzielen. Das ist nicht möglich!

Schon 1941 bei der Umstellung von „Sütterlin“ auf die Deutsche Normalschrift wurde der Grundstein gelegt für das Dilemma der LA (Lateinische Ausgangsschrift ab 1945), VA (Vereinfachte Ausgangsschrift ab 1980) und SAS (Schul- AusgangsSchrift ab 1968 in der DDR). Gut geschrieben sehen alle hübsch aus.

Unleserlich werden sie dadurch, daß die Verbindungslinien nicht mehr dünner sind als die Hauptstriche, wie bei ihrer ursprünglichen Vorlage, der sogenannten „Englischen Schreibschrift“. Die wurde mit einer elastischen Stahlfeder geschrieben, die Hauptstriche mit etwas Druck, die Verbindungen nur gleitend. Die heutigen Schreibgeräte machen keinen Unterschied zwischen Haupt- und Gleitstrich. Im Gegenteil versuchte mancher Anfänger, die Verbindungstriche wie Buchstabenteile zu schreiben: dann entstehen mäanderförmige, schwer lesbare Zeilen. Der Erfinder der VA berichtigt das bei LA von unten durchgezogene „e“, beim „t, z“ greift er zurück auf gotische Schreibformen, und beim „Sack-s“ entgleist er, um die Bindevorschrift zu erfüllen. Durch vereinfachte Großbuchstaben allein ist kein wirkliches Umdenken erreicht.

Verwunderlich ist also nicht, daß manche Pädagogen die Buchstaben-Verbinderei leid waren. Sie vergaßen jedoch drei Funktionen des Verbindungsstrichs. Er stellt, richtig ausgeführt, die folgenden Buchstaben in gleiche Abstände, hält sie an der Schriftlinie und macht das schnell. Jedes Absetzen kostet Zeit, weil der Anfangspunkt des neuen Strichs gesucht werden muß.
Ohne Anstrich setzt der Anfänger die Buchstaben mit wahllosen Abständen ohne Zeilenführung aufs Papier. In späteren Jahren drängt mancher zwecks besserer Zeilenbildung und größerer Schnelligkeit die Buchstaben zusammen. Nun berühren sich vor allem ihre Rundungen. Sehr gut lesbar ist das nicht.

„Druckschrift“ wird bei Pädagogen die Schrift genannt, die im 19. Jahrhundert für Werbezwecke entstand. Sie hat gleichförmig dicke Balken und keine „Füßchen“. Deshalb ist sie für den Bildschirm geeigneter und sieht modern aus. Wegen ihrer einfachen Formen bezweifelten Typografen bis etwa 2000 ihre Verwendbarkeit bei längeren Texten. Es sind nämlich kleinste Details für die Lesbarkeit verantwortlich. Auch „einfache“ Satzschriften werden sorgfältig gestaltet. zB ist das doppelstöckige „a“ typisch bei fast allen Druckschriften.

Damit will ich den Blick auf Erstschriften für Schüler beenden.

Christiane Mahrhofer-Bernt hat Vorurteile über verbundene und unverbundene Anfangsschriften sehr professionell aufgelistet, auch auf die Voraussetzungen für spätere ausgeschriebene Erwachsenen-Handschriften hingewiesen. Leider ist ihr Schriftvorschlag „Luft“ ohne Wagemut und didaktische Fantasie. Man zweifelt, ob ein notwendiger Umschwung in unserem festgezurrten Lehrsystem überhaupt angeregt werden kann. Ich werde es trotzdem versuchen.

Der Lehrer, die Lehrerin, in Vermittlung von Kenntnissen an unruhige Schüler und Schülerinnen gestresst, haben ein Recht darauf, schriftliche Leistungsbeweise in leicht lesbarer Form zur Zensur vorgelegt zu bekommen. Sie sind gewohnt, Texte am Bildschirm zu lesen, und wissen, wie dort Buchstaben mit Tastendruck erzeugt werden. Gleichzeitig schreibt der Lehrplan vor, Lesen und Schreiben solle gleichzeitig vermittelt werden. Da ist es doch naheliegend, die Handschrift der Leseschrift anzupassen, oder einfacher noch, die Leseschrift als Handschrift zu benutzen, den Rechner die Hand ersetzen zu lassen?

Wir bewegen uns bei der Beantwortung dieser Frage auf Spekulations-Kurs. Ob wir sie bejahen oder verneinen: das Resultat liegt in ferner Zukunft. Sind nicht in den letzten 50 Jahren hunderte von Berufen ausgestorben, ohne daß es uns aufgefallen ist? So oder so geht das Leben weiter. Die nächste Generation kennt es nur so, wie es ist. Was aber wird, wenn die Menschen sich dabei verändern, nicht durch Gen-Manipulation sondern indem zB. ihre sensiblen Fingermuskeln nicht mehr geschult werden. Hat das Folgen für unser Gehirn?

Einige Menschen, meist US Amerikaner, haben diese Fragen in letzter Zeit un- tersucht. Aufs Lesen gerichtet warnen Maryanne Wolf und Nicholas Carr vor zu viel Computer. Der Schweizer Schriftkünstler Jost Hochhuli hat schon 1991 sehr bedeutsam gesagt: „Jedes Kind muß aber schreiben lernen. Es ist die einzige gestalterische Tätigkeit, die uns alle verbindet.“

Diese einfache Feststellung des Kollegen wertet die Anfängerschrift auf zu dem, was sie ist: eine gestalterische Tätigkeit. Sie erfordert Anstrengung, wie sie dem jungen Schüler gemäß ist, und sie kann durch ein richtiges Training unterstützt werden. Die Geräte zu dieser Tätigkeit sind Tisch und Stuhl, Stift und Papier, das Training betrifft Körperhaltung und Fingerbeweglichkeit.
Wenn wir die i-Dötze heute vor ihren waagrechten Schreibtischen beobachten, pressen sie die Brust gegen die Tischkante, um den Kopf möglichst weit nach vorn, senkrecht über ihr Schreibpapier zu bekommen. Die Augen geraten viel zu dicht über das Papier, der Schreibarm liegt im ganzen flach auf dem Tisch und ist im Ellenbogen nach außen gedrückt. So kann niemand schreiben. Ein großgewachsener Schüler hat weniger Mühe, von oben auf das Schreibpapier zu schauen. Leider muß er den Rücken krümmen, um den Unterarm auf den Tisch zu legen. Dabei stützt er sich auf den Ellenbogen. Ebenfalls keine gute Schreibhaltung.

„Es war einmal“, so fangen Märchen an, aber ursprünglich haben Menschen an schrägen Pulten geschrieben, besonders immer in der Schule, wo es schreiben zu lernen galt. Tatsächlich verbessert das die Trainingshaltung grundsätzlich, und man versteht nicht, wer auf die Idee mit den waagrechten Tischen gekommen ist. Auch Lesen fällt an Pulten leichter!
Der Oberkörper bleibt aufrechter, die Augen blicken senkrecht aufs Papier, der Unterarm liegt ruhig auf der Platte und der Ellenbogen hat Bewegungsfreiheit. Sollte die Schulleitung auf waagrechten Tischen bestehen, genügt ein Brett 50 x 60 cm vorn schräg über die Tischkante gekippt, hinten etwas unterklotzt. Ein Dreh-, Roll-, Gleit- oder gefederter Stuhl gibt keinen stabilen Sitz. Der Stuhl soll 4 Beine haben. Er muß so zum Schüler passen, daß seine Füße nicht baumeln, er sie nicht um die Stuhlbeine schlingt sondern sie flach auf den Boden stellt.

Der Stift ist heute oft ein Kugelschreiber, der senkrecht zum Papier gehalten sein will. Der ist tauglich für den, der schreiben kann. Der Anfänger soll den Stift schräg zum Papier unten fest zwischen Daumen und Mittelfinger, entlang dem lang gestreckten Zeigefinger halten. Oben liegt er in der Rundung zwischen Daumen und Zeigefinger auf. Der Mittelfinger stützt nach unten ab. In dieser Haltung schreiben Griffel, Bleistift, Tintenroller, Füllhalter.

Diese Stiftposition fördert entspannte Fingerbewegung auf kleinem Raum, nach rechts, links, hoch, runter, im und gegen den Uhrzeigersinn. Es sind nur Gelenke und Muskeln des Daumens, Zeigefingers und Mittelfingers beteiligt, wobei die Spitze des Zeigefingers die Führung hat. Jedenfalls werden die Mittelhandmuskeln oder Handgelenk nur bei sehr großen Buchstaben bewegt. An einer Wandtafel schreibt man aus dem Arm mit der ganzen Hand.

Inflationär hat sich heute eine andere Haltung des Zeigefingers ausgebreitet. Diese Fingerhaltung ist fürs Schreiben geradezu verhindernd. Das unterste Fingerglied wird im Gelenk in einen Winkel bis zu 90 Grad zum zweiten Fingerglied eingeknickt, daß es in ganzer Länge fast am Stift anliegt. Dazu muß es natürlich am Stift entlang nach oben gezogen werden. Die Zeigefingerspitze kann den Stift von dieser Stelle aus nicht mehr führen, sondern drückt ihn gegen Daumen/Mittelfinger. Damit ist der Stift fixiert. Geschrieben wird nun mit den vorderen Mittelhandmuskeln bzw mit der ganzen Hand.
Diese Fingerhaltung ist nicht nur schwer zu beschreiben, sondern es ist kaum erklärbar, warum eine solch sinnwidrige Gewohnheit immer häufiger auftritt. Der Schreibanfänger gibt sich bei seinen ersten ungewohnten Übungen große Mühe. Nehmen wir an, junge Mädchen haben allgemein beweglichere und feinere Gliedmaßen als Jungens. Sie wollen vielleicht ihre Sorgfalt überzeugend darstellen und deuten dies mit dem durchgedrückten Fingerglied an: „mehr kann man wirklich nicht von mir erwarten“. Einmal angewöhnt bleibt diese Fehlhaltung lebenslang. Sie können ja irgendwie damit schreiben. Und nach der Schulzeit ist Schreiben passé. Weil nach meiner Beobachtung diese Fehlhaltung eher weiblich ist, wird eine Lehrerin keinen Anstoß daran nehmen. Es gibt heute noch viel groteskere Schreib-Fingerhaltungen. Da es meist Einzeltäter sind, genügt bei denen ein Kopfschütteln.
Eine Grundschullehrerin iR. erzählte mir, in Klasse 4 habe sie eine Lehrerin bekommen, die zum Schreiben den Füller zwischen Zeigefinger und Mittelfinger klemmte. Das habe die ganze Mädchenklasse so cool gefunden, daß sie alle so geschrieben hätte. Sie könne das heute noch!
Man übt Schreiben am einfachsten auf kariertem Papier. Zwei Karos zwischen den Zeilen freilassen. Es gibt auch Karopapier mit länglichen Rechtecken. Unter die Schreibhand gehört ein Schutzpapier, damit das Schreibpapier nicht vom Hauttalg angefettet und untauglich wird.
Es gibt in jedem handwerklichen Beruf oder in jeder Sportart, ja sogar für den Autofahrer professionelle Hinweise, wie eine Tätigkeit schnell und effektiver ausgeführt wird. Die meisten Menschen übernehmen gern diese ausprobierten Ratschläge. Beim Schreibenlernen jedoch wissen Lehrer und Schüler scheinbar alles besser und verschließen sich der Vernunft. Für die Schüler kann ich nur spekulative Gründe nennen. Erstens: die Schule selbst wird nicht als Ort des Einverständnisses empfunden und pauschal bestreikt. Zweitens: Kindern wird heute so viel über ihre Individualität erzählt, daß sie fürchten, eine gelernte Handschrift verdrehe ihren Charakter. Drittens: und das ist naheliegend: sie sehen keinen Nutzen mehr im Schreiben wie es heute verwendet wird. In der Schule soll, ist der Verdacht, deshalb gut leserlich geschrieben werden, damit der Lehrer Hausaufgaben und Klassenarbeiten bewerten kann. Lehrstoff wird kaum handschriftlich erarbeitet sondern aus Büchern erlesen. Dort werden viele Aufgaben gelöst durch Kreuzchen an den richtigen Stellen. Viele ihrer Referate und Projekte druckt später der Rechner.

Eine meiner Anregungen lautet daher: sobald der Anfänger einige Silben zu Wörtern zusammenfügen kann, soll er sie zur Korrespondenz mit seinen Mitanfängern einsetzen. So wird die Aufmerksamkeit der Klasse auf die Schrift gelenkt. Wie bekannt, sieht man die Fehler zuerst beim Anderen, natürlich dann auch bei sich selbst. Lesenlernen von Selbstgeschriebenem findet ganz selbstverständlich und nebenher statt. Man kann es sogar spielerisch gestalten, wenn man mit den wenigen Anfangs-Möglichkeiten Denksport betreibt. Mit einem Wort: durch Schreiben und Geschriebenes Lesen wachsen Interesse und gemeinsame Wertschätzung am Gedankenaustausch. Es ist die beste Vorbereitung auf echtes Lesen von Buchtexten.

Bei dieser neuen Gewichtung des Schreibenlernens stellen Lehrer die Frage: wie soll es in heutige Curricula gepreßt werden? Sie sind voll genug! Ja, und in diesen Lehrbetrieb paßt es auch nicht. Deshalb plädiere ich für ein kreatives Jahr zwischen Kindergarten und erstem Schuljahr. (Siehe Vorwort). Es gibt so vieles im Leben, was für Kinder in diesem Alter interessant ist und ihnen wichtige Grundlagen fürs Leben erschließt. Ohne Bücher und ohne Zensuren. Man kann nicht tagelang Schreiben-lehren oder -lernen. Die Zwischenzeiten werden gefüllt mit Naturbeobachtung, Gesundheits- und Ernährungslehre, sozialem Benehmen, Sprachformung, viel Sport mit Leistungs-Zielen, Singen und Theaterspielen mit Texten auswendig lernen, Malen, Grundrechenarten. handwerkliche Techniken, Heimatkunde mit Wanderungen, Dialekte, Mode- und Medien-Gebrauch usw. Manches davon wird im Kindergarten vorbereitet.

Vom Kreativen Jahr darf erwartet werden, daß der erste Eindruck vom Lernen in der Schule die Anfänger anders prägt und sie in den Folgejahren durch höhere Konzentration und Bereitwilligkeit die vorausgabte Zeit kompensieren.

Ich möchte meiner neuen Anfänger-Handschrift den Namen RAN (Reformierte Anfängerschrift) geben und gleichzeitig bitten, keine Formsensationen zu erwarten. Für Laien mag sich der Gesamteindruck vielleicht kaum verändern. Das darf nicht anders sein. Es kommt mir hauptsächlich auf die Art an, wie die Buchstaben entweder verbunden oder nicht verbunden werden, und daß aus diesen Möglichkeiten die gelenktere individuelle Schreibentwicklung entsteht. Als erstes schlage ich vor, die Anfängerschrift aufrecht zu stellen. Das ist für die Schüler sicherer zu erfassen als irgendeine Schräglage. Meist entscheiden sich ohnehin viele rechtsschräg-Gelernte oft eine zeitlang für linksschräg.

Zweitens: auf Schnelligkeit sollte in der ersten Zeit kein Wert gelegt werden. Unser Kleinbuchstaben-Alphabet umfaßt drei große Formgruppen: die gradlinigen, die runden und die schrägen Buchstaben. Die Gradlinigen fangen mit ihren Strichen an der oberen Schriftlinie an und hören an der unteren Schriftlinie auf. Das sind i, m, n, u (und die Verwandten h, l, die vornoben länger sind). Sofern diese Buchstaben aufeinander folgen, kann man sie mit einer ziemlich geraden Schräglinie verbinden, die Verwandten nur nach rechts hin.

Die Runden a, c, d, g, o, q konnten bisher an ihrer linken Seite nur umständlich gebunden werden. Den schrägen Anstrich zog man zunächst in die obere Rundung, dann auf dem gleichen Strich ein Stück zurück (Deckstrich), um die übrige Rundung bis rechts oben zu schreiben. Meist blieb oben eine Öffnung. Hier setzt meine eigentliche Reform an. Wir machen den schrägen Anstrich nur bis zur Buchstabenmitte und von dort aus die ganze Rundung bis zum gleichen Punkt zurück. Auch „e“ bekommt den ähnlichen Schwung für den e-Kopf. Das ist eigentlich schon alles, aber die Wirkung ist verblüffend. Die Bindung zwischen den Gradlinigen untereinander und die zu den Runden ist so häufig, daß man durchaus an eine verbundene Handschrift denkt.

Tatsächlich sind fast alle anderen Striche ohne Bindung geschrieben. Schlaufen der Ober- und Unterlängen sind weg. „g“ startet nach der beschriebenen Rundform rechts mit einem Strich an der oberen Schriftlinie und endet nach der unteren Krümmung. Das „f“ ist ein Pendant zu diesem g-Strich, wird nur vom Querstrich durchschnitten. Dieser könnte allerdings, wie zb der geknickte Kopf des „r“ bei logischem Zusammentreffen nach rechts binden. Logisch bedeutet, daß es unsinnig wäre, die Bindung nicht zu machen.

Die schrägen Buchstaben k, v, w, x, z schließlich werden so einfach wie möglich gehalten, allenfalls kann die rechte Diagonale bei v und w oben leicht nach innnen gekrümmt werden. Sie können zu folgendem i oder r hin binden. Ich möchte, wie man sieht, die Sache nicht zu fest zurren: Bindungen sind genügend vorgegeben. Nach Belieben können sie vermehrt werden.

Bei „n“ und „m“ sollen die Diagonalen leicht modelliert sein, indem sie sich ein wenig nach oben wölben. Die Diagonale von „u“ soll sich ein wenig nach unten wölben. Beim u führt das möglicherweise dazu, daß der zweite Abstrich die kleine Kurve des ersten übernimmt. Dann kann diese Bewegung auch an l (el) und t ausprobiert werden. y wird wie u aber mit Unterlänge geschrieben.

„c“ und „s“ werden von rechtsoben in einem Zug gemacht. Wenn der Anfänger es fertigbringt, aus der unteren Rundung von c und e eine Digonale zu ziehen, die nicht flacher ist als der übliche Bindestrich bei nn, dürfen sie zum folgenden Buchstaben logisch binden. Wer dem s eine Bindeform geben will, kann das nur im Aufstrich machen. Der muß oben in eine kurze Senkrechte umknicken, bevor die untere Rundung folgt. Es darf keine „schlappe“ Rundung entstehen.

Wesentlich ist, daß der Anfänger von Beginn an sein Augenmerk darauf richtet, wie er den zunächst folgenden Strich ausführt. Das regt seine Logik an, seine Gehirntätigkeit.

Die Großbuchstaben einer Anfängerschrift sind für den Schreibfluß weniger wichtig. Sie können denen der „Druckschrift“ ähneln. Ich schlage jedoch vor, den jeweils ersten, wichtigen Strich unten etwas nach links zu krümmen. Das macht die Buchstaben geschmeidiger und weckt beim Schreiber mehr Interesse, eigene Versuche auch mit großen Anfangsbuchstaben zu machen.

Ich danke den Lesern, die mir bis hierher ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Einiges weiß ich ziemlich sicher zB. über Schreibhaltung und Fingerbewegung. Anderes bedarf des Ausprobierens, ob Anfängern zB. die Rundung gegen den Uhrzeigersinn schwer oder leicht fällt. Ich weiß auch nicht, ob sich genügend Menschen finden, die noch in der Lage sind, selbst richtig zu schreiben bzw. es anderen beizubringen. Allerdings deuten die vielen Spätberufenen, die sich noch einer Hobbykunst widmen, auf ihre Sehnsucht nach manueller Betätigung jenseits des Digitalen hin.
Überzeugt bin ich, daß eine erfreuliche Handschrift für jeden Menschen unserer Kultur eine Bereicherung ist, sowohl im Machen als auch im Empfangen und Lesen. Mit RAN liegt jetzt ein Vorschlag vor, der die erste Schüler-Handschrift versteht als Reihung von Buchstaben-Elementen, die je nach formaler Logik verbunden und unverbunden geschrieben wird.
Vernunft hat sich in der Geschichte der Schrift immer durchgesetzt.


Dieser Text inklusive einer Schreibanleitung kann kostenlos als gedruckte Broschüre bei URW, Hamburg bestellt werden.

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