Georg Salden


Richtig schreiben lernen – Ein Beitrag zur Bildungs-Reform

‚Richtig schreiben lernen‘ bedeutet in Deutsch orthografisch und grammatisch richtig schreiben, eventuell zweitens geschickt berichten. Hier soll es jedoch um die richtige Schreibtechnik gehen, die Art und Weise, wie man das Schreibgerät mit den Fingern gut zu führen lehrt und lernt. In jedem Hand-Werk vom Dachdecker bis zum Schlosser, in jedem Sport vom Boxen bis zu Golf, gibt es Erfahrungs-Regeln, die die jeweiligen Tätigkeiten zweckmäßig und ausdauernd machen.

Beim Schreibenlernen zielen die heutigen Wünsche auf automatisierte Fingerbewegungen und sogenannte Flüssigkeit der Schrift, damit der Schreiber schnelle Notizen zustande bringt. Das ist so, als ob man dem Zweijährigen erklärt, wie er einen 200-Meter-Lauf gewinnt. Außerdem soll der Schreibanfänger gleichzeitig aus Büchern lesend lernen. Das ist so, als ob der Kfz-Schlosser-Lehrling gleichztig lernen soll, einen Autobus zu lenken.

Diese krassen Beispiele sollen aufmerken lassen, daß wir den Schreibanfänger weder allein werkeln lassen noch ihn überfordern dürfen. Er muss das richtige Material bekommen, die richtige Didaktik und das richtige Lehrpersonal. Ich schreibe nur die maskuline Form. Auch in allem Folgenden sind natürlich Schüler und Schülerinnen, Lehrerinnen und Lehrer gemeint.

Der Stuhl hat 4 Beine und ist so hoch, daß beide Schuhe des Kindes flach auf der Erde ruhen. Die vordere Kante des schrägen Pult-Tischs liegt etwa in Bauchnabel-Höhe des Sitzenden. Das Schreibpapier ist kariert. Der nicht zu dünne Stift schreibt spitz mit Tinte oder Blei in schrägem Winkel zur Pultfläche. Er wird mit den Spitzen des Daumens, des Zeigefingers und des Mittelfingers gehalten und bewegt. Das unterste Glied des Zeigefingers wird nicht durchgedrückt. Der Finger liegt leicht nach oben gekrümmt entlangt des Stifts. Rechtshänder legen den Unterarm etwa im Winkel von 45 Grad zur unteren Papierkante auf die Pultschräge. Der Rücken des Schreibers bleibt möglichst gerade und die Augen sind mindestens 25 cm vom Papier entfernt.

Ich bin Rechtshänder. Für wirkliche Linkshänder müßte eine linksseitige, schreib-interessierte Lehrkraft die beste Schreib-Haltung ermitteln. Die Kinder sollen auf wirkliche Linksseitigkeit geprüft werden, also auch linksfüßig und linksäugig sein. Ich kenne Erwach­sene, die links schreiben, obwohl sie rechts geschickter sind.

Die Anfänger lernen zunächst in Übungen gestalterische Begriffe wie senkrecht, waagerecht, schräg, diagonal, gerade, gewölbt, eckig, rund, Kreis, Oval, Auf- und Abstrich, mit und gegen den Uhrzeigersinn. Die geraden Striche sollen in der Geschwindikeit gezogen werden, wie ein Messer durchs Butterbrot schneidet. Ein Kreis soll mit soviel Schwung geschrieben werden, wie das Kind einen Ring über einen Pin wirft. Trotzdem darf keine Hast entstehen. Die Beweglichkeit der Schreibfinger wird an anderen runden und kugelförmigen Gegenständen trainiert. Erst wenn die Finger die geforderten Schreibbewegungen beherrschen, geben wir den Strichen Buchstaben-Namen.

Wir beginnen mit den Kleinbuchstaben. Sie werden niemals einzeln geübt. Zugleich wird ihr Lautwert mitgelernt und als Vokal oder Konsonant unterschieden. Mit diesem Wissen werden einfache Silben vorgeschlagen und übungsmäßig geschrieben. Von Beginn an sichert die Lehrkraft die Zusammenarbeit der Anfänger untereinander. Alle Übungen werden ausgetauscht und vom Nachbarn kritisch beurteilt, auch betreffend der Finger- und Körperhaltung. Mindestens seit der Bibel ist bekannt, daß der Fehler des Anderen schneller bemerkt wird als der eigene, daß dies aber auch bei der eigenen Fehlersuche hilft. Es herrscht also ein fröhliches, offenes Miteinander.

Die Kleinbuchstaben mehren sich, die Silben- und Wortwahl wird anspruchsvoller. Bald schreibt der Schüler eine kleine Nachricht. Jeder weiß, daß sein Mitschüler diese lesen soll. Er gibt sich Mühe, daß dieser Zweck erfüllt wird. Er selbst möchte ja auch Lesbares bekommen. Die so erworbene Fähigkeit wird in späteres Lesen von gedruckten Texten nahtlos überleiten. So weit sind wir aber noch nicht.

Zweierlei, das Wichtigste, gilt es zu berücksichtigen. Ein bisheriges Anfänger-Schuljahr ist mit Lehrstoff wie alle anderen gut gefüllt. Wann soll diese Art Schreiben gelehrt werden? Heutige Lehrer schreiben so, wie sie es vor 20–30 Jahren von Lehrern gelernt haben, die es vor 40–60 Jahren von ihren Lehrern gelernt haben. Allenfalls sind sie im Zweifel zwischen verbundenen und unverbundenen Buchstaben. Es ist zweckmäßig, das ‚richtige Schreibenlernen‘ in eine vorgeschaltete, aber in die Schule integrierte buchfreie, zensurenlose Zeit zu legen. Unterrichten sollten Lehrkräfte, die selbst, wie auch immer, die ‚richtige‘ Schreibtechnik vermitteln können und solche, die Unterricht ohne Bücher-Unterstützung geben wollen. Der Lehrstoff muß angepaßt werden.

Als erfahrener, jahrzehntelanger Schriften-Entwerfer und-Lehrer habe ich mir Gedanken gemacht, wie man den fünfzigjährigen Streit zwischen ‚Lateinischer Ausgangsschrift‘ u.ä. und der sogenannten ‚Druckschrift‘ beendet, so daß die Vorteile beider Reihungen erhalten und ihre Nachteile im späteren Vollzug verhindert werden. Die Verbindungsstriche zwischen den x-hohen Kleinbuchstaben stellen nämlich den folgenden Buchstaben in den richtigen Abstand und stabilisieren die Zeilen. Beides mangelt der unverbundenn Handschrift. Deren Buchstaben werden entweder zu dicht oder zusammenhanglos gestellt. Diese Abstands-Unsicherheit entsteht auch, weil die linksrunden Buchstaben nicht linksseitig begonnen werden. Durchgezogene Verbindungen machen unleserlich. Deckstriche klecksen und schlaufen. Die Verbindungsstriche dürfen nicht wie Buchstabenteile geformt werden. Auch das macht unleserlich.

Anstatt also den Anfängern Buchstaben zu lehren und es ihm zu überlassen, sie nach seinem dilettantischen Gutdünken zu verbinden oder auch nicht, muß er beides gleichzeitig gestalten lernen. Die Verbindungstriche sollen schräge, glatte, gerade Linien sein. Das ist leicht, wenn der vordere Buchstabe unten an der Schriftlinie endet und der folgende an der oberen Schriftlinie beginnt. Bei den linksrunden Buchstaben habe ich eine variierte Form gefunden, die mit einem halbhohen Verbindungsstrich links unten beginnt. Ohne hier zu sehr ins Detail zu gehen: diese beiden Verbin­dungen machen aus der unpersönlichen ‚Druckschrift‘ eine vebundene ‚Handschrift‘. Diese anspruchsvolle Aufgabe motiviert den Schüler, Er lernt gestalten, denken, lesen und freut sich an den Ergebnissen. Seine Gehirnzellen leisten mehr als bei Automatismen. Selbstverständlich wird auch bei dieser Schrift mit der Gewandtheit die eine oder andere Bindung wegelassen oder ergänzt werden. Es wird aber bei einer bewußteren, lesbareren Formung bleiben.

Ich betone diese im Grunde Selbstverständlichkeit, weil ich beobachte, daß 78 Prozent der Menschen meiner Umgebung den Stift anders halten. Es gibt Kinder, die mit ihrer Zunge die Nase erreichen, andere, die ihren Daumen so verbiegen können, daß er den Unterarm berührt, auch können Schlangenmenschen die Beine hinter ihrem Kopf verknoten. Das sind Merkwürdigkeiten. Unglaublich viele Menschen können jedoch anscheinend mühelos das Fingernagel-Glied des Zeigefingers im Gelenk nach innen abknicken, Dazu müssen sie den Zeigefinger hochziehen. Manche können das so weit, daß der obere Knöchel wie das Matterhorn aufragt. Der Druck des unteren Fingerglieds blockiert nun den Stift mittig zwischen unterer und oberer Auflage und zwingt den Schreiber, mit allen Muskeln der Vorderhand zu schreiben. Also das Gegenteil von Feinmotorik. Es ist dies der Fehler, den ich oben den der schon zweiten Generation nannte. Übrigens erfordern Schreiben an der Wandtafel oder das frühere simulierte Schreiben in der Luft keine Feinmotorik.
Reformierte Anfänger Schrift
URW in Hamburg hat mich bei meinen Überlegungen unterstützt und eine Broschüre über meine Arbeit drucken lassen. Sie kann dort kostenlos bestellt werden.


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